Ferienzimmer im project art+design

Rumpelstilzchen
aus
"Engelsbrücke - Römische Betrachtungen"

von Marie-Luise Kaschnitz

Auf die Dauer ist das Alleinsein, die Anonymität nicht zu ertragen, da wir aus der Beziehung, der Verantwortung leben. Wer eine sogenannte schöpferische Arbeit vorhat, kennt dennoch die Zauberkraft der unpersönlichen Umgebung, den großen Reiz der Entfernung aus dem gewohnten Bereich. Der Anspruch, das Angesprochenwerden von Menschen ist lebensfördernd, aber arbeitshemmend, nicht weniger ist es die Berührung der Dinge, die unser vertrauter Umgang sind. Auch die Dinge reden, beobachten, erzählen Geschichten, die man im Augenblick nicht hören möchte. Sie melden ihre Schäden an und gemahnen an die Vergänglichkeit, sie stecken voll von gelebtem Leben und sind wie alle Erinnerungsträger auch Gläubiger, die Unerfülltes eintreiben wollen und denen man sich nur durch die Flucht entziehen kann.

Von Zeit zu Zeit eine möblierte Wohnung zu mieten ist nützlich, da man hier von den Dingen höchstens als Eindringling geduldet und hochmütig übersehen wird. In einem Hotelzimmer oder Spitalzimmer halten sie noch mehr Distanz und sind außerdem abgebrüht, zuviel Wechsel, sich zu verausgaben lohnt ihnen nicht. Diese Räume also sind still, aber ebenso still, ebenso farblos und anspruchslos mag unter Umständen ein lärmerfülltes Cafehaus sein, da schon die Rumpelstilzchen-Anonymität genügt, um der Welt die Einbildungskraft den nötigen Spielraum zu geben. Fremde Geräusche können hier überhört, aber auch plötzlich als bedeutsam wahrgenommen werden. Die Landschaften im Fenster eines fahrenden Zuges haben dieselben beiden Möglichkeiten, wie überhaupt die erstaunliche Lage des Nichtmehrhier- und Nichtmehrdortseins das Eisenbahnabteil zur idealen Eremitenzelle macht.

Im Schreibwarenhandel gibt es kleine, auf bestimmte Weise hergerichtete Tafeln, auf denen man, durch einen einzigen Handgriff, die vorher in die weiche Fläche eingegrabene Schrift auslöschen kann. Tatsächlich brauchen wir, um etwas zu erfinden, in uns eine solche Leere, Strand im Frühlicht, von den Wellen glatt gewaschen, noch keine Fußspuren im Sand. Ein Wissenschaftler, den ich kannte, arbeitete ausschließlich sehr früh am Morgen, im Bett, ungewaschen und ohne Frühstück, weil schon das Verlassen des Zimmers, und um wieviel mehr die Begegnung mit einem Familienmitglied, ihm die Stille der Wiedergeburt zerriß. Der Schlaf ist nur eine Form der Entfernung aus dem Gewohnten, jeder anderen kommt dieselbe Bedeutung zu. Ein Stück neue Geburt, Ausgesetztsein, in der man das eigene Selbst abzutasten und seine Beziehung zum Nahen und Ferneren festztstellen beginnt.

Ohne diesen Urvorgang des Erkennens aber ist es nicht möglich, auch nur einen Zeitungsartikel zu schreiben.

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